Ein Briefwechsel über die Geborgenheit
Liebe Andrea,
Du weißt, übers Wochenende hatte ich dieses Meditationsseminar zum Thema Geborgenheit. Es gab im Seminar verschiedene Momente, weshalb ich gerne an das Wochenende zurückdenke. Am meisten freut mich aber, dass ich den Begriff »Geborgenheit« ganz offen lassen konnte.
Ich spreche gern von der Geborgenheit, die sich einstellt, wenn wir uns beim Meditieren auf die Wahrnehmung des Körpers oder auf die Wahrnehmung des Atems einlassen. Das lässt sich beschreiben, in einfachen Worten oder in gefühlvollen Bildern. Auch für die Geborgenheit, die sich einstellt, wenn die Stille überhand nimmt, habe ich Worte. Aber dann – dann lasse ich es gerne offen.
Abgeschlossen habe ich das Seminar mit einem Gedicht von Magdalena Rüetschi; Du erinnerst Dich: Meine Frau und ich gehörten in ihren Freundeskreis. Das Gedicht ist wenig bekannt; Magdalena Rüetschi hat es in keines ihrer drei Bücher aufgenommen; sie hat es in einem Jahrbuch (Aarauer Neujahrsblätter 1995, Seite 205) publiziert.
Kennst du einen Menschen
Kennst du
einen Menschen der
dir in die Augen schaut und
auf die Stirn dann
mit seinem Blick
(über dein Haar hinweg)
den Fluchtpunkt
deines Lebens
sucht
weit hinter dir
weit vor dir
wenn du dich drehst?
Viele Mystiker und Mystikerinnen nehmen für die Deutung ihrer Herzenserfahrungen Überlegungen der neuplatonischen Philosophie zu Hilfe, beispielsweise für die Erfahrung, dass wir das Göttliche verstehen und uns nach dem Göttlichen sehnen, die philosophische Vorstellung, dass wir (unsere Seele, unser Bewusstsein) im Göttlichen wurzeln und im Göttlichen unsere Erfüllung finden werden. – Im Gedicht ist es das Bild vom »Fluchtpunkt«, von dem wir herkommen und auf den wir zugehen.
Ich habe es verpasst, mit Magdalena Rüetschi darüber zu sprechen: Schaut sie ihrem Gegenüber in die beiden obersten Chakren, um die göttliche Herkunft zu sehen? Oder sind es bildhaft verstandene Ausdrücke für einen Blick, der über das konkret Vorgegebene (wie Gestalt, Kleidung, Benehmen) hinausschaut, wie in eine andere Dimension? Sie nimmt wahr: Wir sind im Göttlichen geborgen, sei es als Erfahrung der Herkunft, sei es als Erfahrung der Erfüllung.
Wie geht es Dir damit? Ist Dir, in Deiner Meditationspraxis, Geborgenheit eine zentrale Erfahrung? Oder würdest Du das Dir Zentrale ganz anders beschreiben? Zu Dir, zu Eurer Familie gehören ja auch vier junge Menschen; wie vermittelst Du ihnen Geborgenheit? Hoffentlich hatte Dein Tag, wenn Du heute Abend zurückschaust, auch Momente der Geborgenheit für Dich bereit!
Liebe Grüsse
Peter
Lieber Peter,
Für mich selber scheint die Geborgenheit so selbstverständlich zu sein, dass sie sich bei meinen Meditationserfahrungen nicht in den Vordergrund spielt. Wenn ich mit Patienten arbeite, dann taucht sie allerdings manchmal auf, weil sie gebraucht wird und dann kann ich die Geborgenheit ansprechen, Bilder dazu entwerfen, die sich im Patienten entfalten können.
Wenn ich darüber nachdenken, fällt mir auf, dass die Geborgenheit sogar ein Grundpfeiler in meiner Arbeit ist. In der geführten Entspannung, in die ich den Patienten zu Beginn der energetischen Behandlung helfe, geht es an einer Stelle darum, sich geborgen zu fühlen.
Weiss Du, was mein Bild dazu ist? Ich nehme eins aus der Kindheit, das mir selber sehr nahe ist und von dem ich vermute, dass die meisten es so oder ähnlich erlebt haben. Es ist der Raum im Raum. Ich führe, wenn der Patient / die Patientin schon gut im Körperraum angekommen ist, in einen darin liegenden geheimen Raum, eine Höhle oder selbstgebaute Bude – man nehme Tische und Stühle, werfe Decken und Tücher darüber, befestige sie mit Wäscheklammern und schon ist die eigene Bude fertig. Die Patientin / der Patient zieht sich hier imaginär zurück, mit Decke und Stofftier oder anderen vertrauten und geliebten Sachen, die ihm Geborgenheit vermitteln.
Meist funktioniert das gut. Auch wenn es im Leben der Patientin / des Patienten wenig Geborgenheit durch das Elternhaus gab, so vermittelt dieser eigene geheime, selbstkreierte Raum ihnen dennoch Geborgenheit.
Du fragst danach, wie ich meinen Kindern Geborgenheit vermittle. Ich müsste die Kinder fragen, ob sie sich geborgen fühlen und gefühlt haben, als sie kleiner waren. Mir scheint es ist gelungen, sie in Geborgenheit aufwachsen zu lassen.
Ist das nicht ein natürlicher Prozess? Ich meine, ist das nicht ein Nebenprodukt der Liebe, der totalen Annahme?
Wir haben ihnen als Eltern einen Raum geschaffen, in dem sie sich entwickeln konnten und noch immer können. Auch das wirkt auf mich, wie ein geschützter kleinerer Raum im grösseren Raum der Gesellschaft. Vermutlich ist das der Ausgangsraum, den man als Erwachsener nach innen verlegt. Man trägt diese Erfahrung, das Gefühl von Geborgenheit dann in sich.
Oder wenn man es nochmals anders anschauen will, dann ist die Geborgenheit vermutlich als Schwingung als Feld schon da, bevor man die Erfahrung macht. Man braucht aber die Erfahrung, damit man das Feld bewusst wahrnehmen kann.
Eine meiner zentralen Erfahrungen in der Meditation ist der Frieden. Aber darüber können wir ja ein anderes Mal sprechen.
Liebe Grüsse,
Andrea